die "Weiße Frau"
Historischer Hintergrund einer Sage - die "Weiße Frau" von Orlamünde
Eine der bekanntesten deutschen Sagen ist mit der Lobdeburg-Leuchtenburger Linie verbunden. Kunigunde von Leuchtenburg war die Tochter des Landgrafen Heinrich von Leuchtenburg und Elisabeths von Meran. 1321 heiratete Kunigunde den Grafen von Orlamünde-Plassenburg. Die Ehe blieb auch noch nach 17jähriger Dauer kinderlos. Daraufhin schlossen die beiden Ehegatten mit den Burggrafen von Nürnberg Johann und Albrecht aus dem Haus Hohenzollern einen Erbvertrag (1338). Falls Otto und Kunigunde ohne Erben bleiben sollten, würden ihre Herrschaften in Orlamünde und Plassenburg an die Nürnberger Burggrafen fallen. Nach dem Tod Ottos soll die junge Witwe ihre beiden Kinder getötet haben, um den Burggrafen Albrecht den Schönen heiraten zu können. In ihren Erwartungen getäuscht, ging sie nach ihrem Tod als Weiße Frau um. Aus zwei Sagenkreisen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, entstand die Geschichte der Weißen Frau. Die volkstümliche Vorstellung vom lebenden Leichnam, der als ein spukender Geist umherwandelnden Weißen Frau, ist die eine Sage. Die andere ist das künstliche Gebilde vom Kindesmord. Die beiden Sagen verwoben sich erst nachträglich im Mittelalter (311) und der Frühen Neuzeit (312). Die Phantasie verstrickte das äußerlich zusammenhängende auch innerlich und stellte einen schicksalsmäßigen Zusammenhang her.

Die Sage ist in unterschiedlichen Varianten überliefert:
"Die Witwe des Grafen von Orlamünde verliebte sich in den Burggrafen Albrecht den Schönen von Nürnberg. Dem Burggrafen schien die schöne Witwe auch nicht gleichgültig, er tat die Äußerung, er würde die Gräfin ehelichen, wenn nur vier Augen nicht wären. Nun hatte die Gräfin zwei kleine Kinder aus ihrer Ehe mit dem Orlamünder Grafen. So bezog sie den Ausspruch Albrechts auf die Kinder und beschloß, beide aus dem Wege zu schaffen. Die Gräfin nahm eine goldene Nadel, stieß sie den Kindern ins Gehirn und gab vor, sie seien nach kurzer Krankheit verstorben. Niemand ahnte von der Untat, und so wurden die Kinder im Kloster Himmelkron beigesetzt. Aber die Heirat mit dem Burggrafen zerschlug sich. Langsam wurde das Verbrechen ruchbar. Albrecht mied die Frau von Orlamünde, und diese wurde von tiefer Reue ergriffen. Als Büßende pilgerte sie nach Rom und erhielt dort die Absolution, unter der Bedingung, daß sie ein Kloster stifte. Das tat die Gräfin auch, dann aber trat sie in das Kloster Himmelkron (313), in dem sie als Äbtissin starb und begraben ward." (314)

Eine weitere Variante der Sage:
"Nachts, wenn die Welt zur Ruhe gegangen und die weite Erde in düstere Finsternis gehüllt oder vom stillen Glanz des Mondes beschienen liegt, sieht man zuweilen am Berge zu Orlamünde, dort, wo noch die alte Kemenate die Stelle bezeichnet, an der einst das mächtige Geschlecht der Burggrafen von Orlamünde manch Jahrhundert lang hauste, eine weiße, verhüllte Frauengestalt gespenstisch langsam umherwandeln. Das totenbleiche Antlitz ist von Schmerz und Kummer gezeichnet, und ihre Augen irren umher, als suche sie etwas, das sie verloren habe und nun nicht wiederfinden könne.
Das ist Agnes, die weiße Gräfin von Orlamünde, die Gemahlin des Grafen Otto II., der im Jahre 1284 (315) starb und die Gräfin als Witwe mit zwei kleinen Kindern allein in der Welt zurückließ. Doch die düstere Witwentracht sagte der schönen Frau nicht zu, und Gram und Trauer über den Tod des Gemahls währten nicht lange. Bald danach entbrannte ihr Herz in heißer, leidenschaftlicher Liebe zu dem stattlichen Markgrafen von Brandenburg, Albrecht dem Schönen. Dieser aber erwiderte die Liebe der Gräfin nicht und blieb kalt und ungerührt gegen all’ ihre Gunstbezeugungen. Darüber ergrimmte die schöne Frau und ließ heimlich nachforschen, welches wohl der Grund sei, warum sie der Markgraf so hartnäckig verschmähte. Der aber, hierüber befragt, hatte geäußert: ‘Ja, wenn vier Augen nicht wären’. Als diese Rede der Gräfin hinterbracht wurde, sann sie lange darüber nach, wen wohl der Markgraf mit diesen Worten gemeint haben möchte, und bald geriet sie auf den Gedanken, diese vier Augen, die ihrer Liebe im Wege ständen und sich zwischen sie und den heißbegehrten Markgrafen stellten, könnten keine anderen sein als die fröhlichen Kinderaugen ihres kleinen Sohnes und ihres Töchterchens, um derentwillen der Markgraf sie nicht zum Weibe nehmen wollte. Lange stritt nun das edle Gefühl der Mutterliebe mit jener wilden, glühenden Leidenschaft, die ihre Seele für den schönen Markgrafen erfüllte, aber nach schwerem Ringen trug endlich die letztere den unnatürlichen Sieg davon. In stürmischer Nacht ließ die grausame Mutter draußen im finsteren Tann durch ihren Jäger, den unbarmherzigen Haider, die Kleinen, die rührend in Todesangst den wilden Mörder um Schonung ihres unschuldigen Lebens baten, heimlich ermorden.
Nun glaubte die Gräfin endlich am Ziel ihrer Wünsche zu sein. Als jedoch Albrecht der Schöne die schlimme Untat erfuhr, faßte er statt der gehofften Gegenliebe den tiefsten Abscheu gegen das grausame, unnatürliche Weib. Er ließ ihr sagen, daß er mit jenen vier Augen nur die ihrigen und seine eigenen gemeint habe, die nicht zusammen passen würden, und wandte sich für immer von der blutbefleckten Mörderin. Agnes aber verfiel von Stund an in trübe, finstere Schwermut und welkte, von Reue über den an ihren Kindern begangenen Mord verzehrt, langsam einem frühen Tod entgegen. Zur Strafe für ihre Untat irrte sie nun in stiller Nacht umher an den Orten, wo sie einst gelebt, auf der Plassenburg und um die zerfallenen Burgtrümmer Orlamündes, ein blasses Weib in weißem wallendem Gewand, ruhelos die ganze Nacht nach ihren ermordeten Kindern suchend." (316)

Wilhelm von Kügelgen (geb. 1802) erzählt in seinen "Jugenderinnerungen eines alten Mannes" (1870) die Sage von der Weißen Frau. Vernommen hatte er die Geschichte aus dem Munde seiner Tante Ziegesar in Hummelshain (bei Orlamünde). Den Burggrafen Albrecht den Schönen ersetzte er durch Friedrich. Romantisch ausgeschmückt und obwohl Kindern erzählt, setzt die Legende einen härteren Schlußakkord.
"Über den Rieseneck hinaus lag eine Höhe, von wo man über Tannenwipfel das ferne Orlamünder Grafenschloß erblickte. Hier lagerten wir eines Abends im Heidekraut um das verglimmende Feuer. Die blasse Mondessichel hing am Himmel, und aus der Tiefe stiegen Dünste. Die Rede kam natürlich auf die Weiße Frau von Orlamünde, wie sie im Berliner Königsschloß, zu Weimar und anderwärts bis in die neuste Zeit unzweifelhaft gesehen wurde. Und hier im Angesicht der alten Mauern, die sie bewohnt hatte, erzählte uns die Tante etwa die folgende Legende:
‘Vor alten grauen Zeiten, als in deutschen Landen noch die Faust regierte, lebte in jenem Schlosse eine junge verwitwete Gräfin mit zwei kleinen Knaben, deren Vormund der junge ritterliche Burggraf Friedrich von Hohenzollern war. Der kam bisweilen angeritten, um nach seinen Mündeln zu sehen, und weil er ein gar stattlicher Herr war, von edler Sitte und voll Achtung für die Frauen, so geschah es, daß die Gräfin ihn sehr lieb gewann. Wenn er daher nach Orlamünde kam, bezeigte sie sich so freundlich und demütig gegen ihn, daß sie auch sein Herz gewann, und er sie gar zu gern zur Frau genommen hätte. Er war aber ein guter und getreuer Sohn, und da er merkte, daß seine Eltern gegen die Verbindung waren, so schwieg er still und wollte warten, bis die verehrten Alten anderen Sinnes würden. So verlief ein Jahr nach dem anderen. Der Graf blieb stumm dem Anschein nach so kalt wie ein Marmorstein gegen die schöne Witwe, die er doch von Herzen liebte.
Da hörte die tief bedrückte Frau von einem Mönch, der ihr Vertrauter und in Geschäften auf dem Hohenzollern gewesen war, daß der junge Graf geäußert habe: Die Gräfin Orlamünde sei die schönste Blume in deutschen Gauen; solange sich nicht vier Augen schlössen, könne er sie aber nicht in seine Krone flechten. Damit mochte er seine Eltern gemeint haben, die Gräfin aber deutete die Rede auf ihre Kinder. Da fuhr der Satan in ihr Herz, daß sie dieselben heimlich erwürgte. Sie beweinte sie aber öffentlich und begrub sie mit Gepränge. Inzwischen war die Sache ruchbar geworden und vor ein heimliches Gericht gebracht, das bei nächtlicher Weile einen Span aus dem Orlamünder Schloßtor hieb und die Gräfin verfemte. Graf Friedrich aber war Schöffe des Gerichtes und wurde mit der Ausführung des Spruchs beauftragt, der auf Tod lautete. Er allein unter allen Richtern mochte den Grund des Verbrechens erraten und sollte nun diejenige opfern, die ihn mehr geliebt hatte als ihre eigenen Kinder. Aber er war ein Mann und pflichtgetreuer Richter. Die Gräfin fiel von seiner Hand. Als ruheloser Schatten durchwandert sie nun Unheil verkündend die Häuser derer, die von dem geliebten Mörder stammen." (317)
Kunigunde erschien nach ihrem Tod den Nachkommen Albrechts, den Hohenzollern, als Weiße Frau. Sie zeigte sich, um nahendes Unheil oder den Tod eines Mitgliedes des Hauses der Hohenzollern anzukündigen.
In Preußen war die Beschäftigung mit der Sage bereits ein Politikum, denn der in den Kindesmord verwickelte Burggraf war ein Ahnherr der Hohenzollern. W. Kraußold deutete 1869 die Sage in einen Mythos um und verneinte jeden realgeschichtlichen Bezug, um die Vorfahren der Hohenzollern von jedem Flecken der Mitschuld zu befreien.
Die Sage jedoch läßt die mörderische Gräfin in den Burgen der Hohenzollern umgehen und schließt die Nürnberger Burggrafen in die Nachtodstrafe faktisch mit ein.

Ein entscheidender Beleg für die Erklärung der Entstehung der Sage ist die urkundliche Erwähnung der Übertragung der Erbansprüche des Grafen Otto von Orlamünde auf die Nürnberger Burggrafen Johann und Albrecht. Die Burggrafen besaßen damit ein handfestes Motiv, dem Orlamünder Grafenpaar keine Erben bzw. deren frühen Tod zu wünschen. Sobald keine Erben mehr vorhanden waren, brauchte Albrecht die Witwe nicht zu ehelichen. Er erbte auch so und konnte sich nun anderweitig günstig verheiraten - wie er es auch tat.

In der Form der Sage konnte das vermutete Verbrechen rekonstruiert werden. In der patriarchalischen Gesellschaft verschob sich die Hauptschuld jedoch auf die Frau.
Die Weiße Frau ist eine vorchristliche Nachtodgestalt. So belegt die Vorstellung von der Weißen Frau auch das Fortwirken archaischer Glaubensvorstellungen von einem "lebenden Leichnam" innerhalb der christlichen Gesellschaft. Analogien bestehen auch zu den nordischen Schicksalsgöttinnen, den Nornen, den altnordischen Fylgien sowie den Vegetations- und Seelendämonen Holda (Frau Holle). Diese Göttinnen sind Schatzhüterinnen und -spenderinnen, Kinderbewahrerinnen und Kinderschreck, helfende und Schicksal kündende Mächte und schließlich Todesboten und Todesgestalten (318).

Jedoch noch weitere materielle Zeugnisse trugen zur Bildung der Sage bei. Im Kloster Himmelsthron in Gründlach steht der Grabstein Kunigundes. Die Abbildung der im weißen Schleier dargestellten Zisterzienserin mit Abtissinnenstab läßt auch heute noch etwas von dem sie verhüllenden kalten Weiß ahnen. Das Frauenkloster Himmelskron, welches regelmäßig mit dem Kloster Himmelsthron verwechselt wird, wurde am Tage der "Unschuldigen Kindlein" (28. Dezember) (319) des Jahres 1280 von Otto I. von Orlamünde, seiner Ehefrau Agnes und seinen Söhnen Hermann und Otto II. gestiftet. Hier ist der Grabstein von Albrecht, dem angeblichen Liebhaber von Kunigunde zu sehen. Ein Grabstein der zwei Kindergestalten zeigt, entpuppte sich bei näherer Untersuchung als Denkmal der 1529 gestorbenen Äbtissin Ottilia Schenk von Siemau, bei dem zwei Genien (320) das Wappenschild halten. Da Inschrift und Wappen fehlten und nur noch die zwei Genien oder Putten (321) erhalten waren, hielt man die Begräbnisstätte für ein Kindergrab. Die Öffnung des Grabes förderte jedoch nicht die sterblichen Überreste von Kindern zu Tage. Im Kloster Himmelskron zeigte und verwahrte man die Leiber zweier Kinder unter zwei Jahren als Reliquien. Die Kinderleichen zerfielen später und wurden dann in eine große Truhe gelegt. Normalerweise müssen die Toten entsprechend den katholischen Vorschriften der Erde, der sie entstammen, zurückgegeben werden. Besonders angesehene Personen können in den Grüften bzw. Chören der Kirchen ihre letzte Ruhe finden. Nur die Leichname der Heiligen dürfen über der Erde in der Kirche bestattet und auch gezeigt werden. Während der Kreuzzüge war es Mode geworden, Reliquien aus dem Heiligen Land mitzubringen. Die Stifter werden die Reliquien dem Kloster geschenkt haben. In der Haugker Pfarrkirche in Würzburg ist noch heute in einem Seitenaltar der Leib eines heiligen unschuldigen Kindes verwahrt und am 28. Dezember zu besichtigen. Im Frauenkloster Au bei Maria-Einsiedel in Dillingen wird Erde vom Grabe der unschuldigen Kinder aufbewahrt.
Die Sage spann nun die Geschichte von der Weißen Frau aus der im Kloster Himmelsthron auf dem Grabmahl zu sehenden kalten weißen Gestalt der Äbtissin, dem im Kloster Himmelskron begrabenen angeblich Liebhaber Albrecht dem Schönen, den am gleichen Ort bestatteten beiden Kindern und der Legende vom Erscheinen eines spukenden Geistes im weißen Gewand auf der Plassenburg. So entstand aus der Sage des Kindesmordes, der Sage vom spukenden Geist und einigen materiellen Zeugnissen die Sage von der Weißen Frau.
Auch in die Volksdichtung und die Literatur fand die Weiße Frau vielfachen Eingang. Der Priester des Klosters Himmelskron, Nikolaus Dumman, lieferte zu dem deutschen Lied von dem Kindesmord der Herzogin (322) von Orlamünde die lateinische Übersetzung (323) - veröffentlicht 1677. Arnim von Brentano nahm das Lied von der Herzogin von Orlamünde in abgewandelter Form in seine Liedersammlung des "Knaben Wunderhorn" (1805-1808) auf. Auch in die Deutschen Sagen (Nr. 585) der Brüder Grimm ging die Geschichte als Plassenburger Begebnis ein. Die Motive der Sage finden sich in weiteren Märchen (324) und Sagen (325) und in Abzählreimen von Kindern (326).
In Romanen, Balladen und Dramen der Neuzeit fand die Sage eine außerordentlich reiche Gestaltung und Weiterentwicklung. Hier sollen nur noch einige wenige Beispiele genannt werden. Als Ende des 18. Jahrhunderts die Geisterseherei (327) und Anfang des 19. die Schwärmerei und romantische Dichtung Konjunktur hatten, wendeten sich unzählige Autoren dem Motiv der Weißen Frau zu.
Johann August Musäus schuf mit der "Nymphe des Brunnens" eines der schönsten deutschen Kunstmärchen (328). Die Weiße Frau erscheint hier als gütige Fee, als Gaben spendender Schutzgeist, sie ist naturmythische Quellbewohnerin und Hüterin der ungeborenen Kinder.
Die Weiße Frau ergänzte auch die stattliche Anzahl der englischen Gespenster. Matthew Gregory Lewis wurde zu seinem Schauer- und Gruselroman "Ambrosio, or the Monk" durch Musäus 1795 angeregt (329). Sir Walter Scott benutzte das Bild der Weißen Frau in seinem Drama "The Castle Spectre" (1797). Eugen Scribe verfaßte den Text zu Boildieus komischer Oper "La Dame blanche". In der deutschsprachigen Literatur spukte die Weiße Frau bei Achim von Arnim, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (330), Theodor Körner, Franz Grillparzer, Ferdinand Freiligrath, Detlev von Liliencron, Christian Graf zu Stolberg (331), Theodor Fontane, Willibald Alexis (332), Karl Gutzkow, Friedrich Helbig (333) sowie zahlreichen Heimatdichtern.

http://www.museum-leuchtenburg.de/html/sage/frHaupts.htm